Miteinander reden beseitigt Barrieren
Der Allgemeine Behindertenverband in Deutschland „Für Selbstbestimmung und Würde“ e.V. (ABiD) lud 52 Gäste von Behindertenorganisationen aus 13 postsowjetischen Ländern zu einer internationalen Konferenz am 29./30. März nach Berlin ein. Gemeinsam diskutierten sie mit weiteren über 50 Teilnehmer*innen aus Deutschland über die umfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an Kultur, Tourismus und Sport im Sinne von Artikel 30 der UN-Behindertenrechtskonvention. Hierzu erklärt ABiD-Vorstand André Nowak:
„Die Fraktion der LINKEN ermöglichte es, den ersten Tag der Konferenz im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages durchzuführen und so saßen alle Teilnehmer*innen gleichberechtigt am runden Tisch eines der Anhörungssäle. Solch ein offener und von Vertrauen geprägter Disput auf Augenhöhe ist in vielen Ländern so nicht möglich. Hier saßen die ukrainischen Delegierten neben den Vertretern Russlands, Aserbaidschaner neben Armeniern. „Schön, wenn das zu Hause auch möglich wäre“, war ein Satz, der öfters zu hören war.
Eröffnet wurde die Tagung vom Ehrenvorsitzenden des ABiD, Dr. Ilja Seifert, der maßgeblichen Anteil an der seit über 12 Jahren kontinuierlichen Zusammenarbeit des ABiD mit den Behindertenorganisationen der anwesenden Länder hat.
Jürgen Dusel, der Behindertenbeauftragte bei der Bundesregierung, betonte in seiner Begrüßung, dass wir auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft schon einige Etappen gegangen seien. „Aber wir sind noch lange nicht am Ziel“, betonte er. Bei allen Erfolgen, die erreicht wurden, merkte Dusel aber zwei Kritikpunkte an. Zum einen wurde viel in Sachen Barrierefreiheit unternommen. Das sei gut, aber lange nicht genug. Der private Bereich werde noch nicht so stark ins Auge gefasst. Zum anderen habe man sich sehr auf das Themenfeld Erziehung und Bildung fokussiert. Von den 13 Millionen Menschen mit einer Behinderung in Deutschland werden nur vier Prozent damit geboren. Rund 90 Prozent dieser Menschen erwerben ihre Behinderung lange nach ihrer Schulzeit. „Für sie spielt das Thema Erziehung und Bildung eine nachgeordnete Rolle“, erklärt Dusel, betont aber, dass es dennoch ein wichtiges Thema sei.
Selbstbestimmung, Chancengleichheit und umfassende Teilhabe am Leben in der Gesellschaft von Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen sind das gemeinsame Ziel, die UN-Behindertenrechtskonvention der einigende Maßstab. In der Diskussion, an der sich alle 14 Ländervertretungen beteiligten, wurde deutlich, wie vielfältig die Erfahrungen der Länder bei der Umsetzung der Konvention sind. Stellvertretend seien hier die Vorträge von der aus Riga kommenden Generalsekretärin des Europäischen Behindertenforums Gunta Anca, vom Vizepräsidenten des Allrussischen Behindertenverbandes Fliur Nurlygulianov, vom Ukrainischen Behindertenverbandsvorsitzenden Vasyl Nazarenko, vom Präsidenten des Deutschen Behindertensportverbandes Friedhelm Julius Beucher oder vom Präsidenten des Armenischen Behindertensportverbandes Hakob Abrahamyan genannt.
Die Tagung wurde am 30. März in Workshops im Hotel Mondial fortgesetzt. Die Gäste interessierten sich dafür, wie europäische Normen in Deutschland umgesetzt werden, wie ein Tourismus für wirklich alle zu organisieren sei und tauschten sich mit den paralympischen Spitzensportlerinnen Marianne Buggenhagen und Kirsten Bruhn über die Förderung sportlicher Aktivitäten aus. Das Thema Geld und Finanzierung zog sich durch alle Workshops. Zum Beispiel, als der Direktor des Hotels Christian von Rumohr über Ausbaupläne sprach. Dieses Hotel ist Eigentum des Sozialverbandes Deutschland und das erste barrierefreie Hotel in Europa.
Einer der Höhepunkte und offizieller Abschluss der Tagung war eine gemeinsame Kranzniederlegung an der T4-Gedenktafel im Tiergarten. In der Tiergartenstraße 4 befand sich das Gebäude, in dem die systematische Ermordung behinderter Menschen in Nazideutschland angeordnet wurde. Ein eisiger Schauer zog über die Teilnehmer, als ABiD-Vorsitzender Marcus Graubner erklärte, dass ein Verwandter von ihm ebenfalls mit einer Giftspritze ermordet wurde.
Auch die Abende waren wichtige Teile der Konferenz, sowohl der Begrüßungsabend im Hotel Mondial wie auch der Kulturabend „Inklusion rockt! Musik für Alle“ mit Handiclapped Kultur Barrierefrei e.V. und der Abschlussabend bei einer Rundfahrt durch Berlin mit dem barrierefreien Schiff „Köpenick“ der Reederei Riedel.
Diese Konferenz hat einmal mehr gezeigt, dass es immer und zu jederzeit möglich ist, miteinander zu sprechen und dass Grenzen vor allem in den Köpfen bestehen. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wird in dem einen Land auf diese Weise, in einem anderen Land auf eine andere Art verwehrt. Bei genauer Betrachtung befinden sich Menschen mit einer Behinderung in sehr ähnlichen, oft diskriminierenden Situationen.“
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Die Konferenz wurde gefördert vom Auswärtigen Amt und stand unter der Schirmherrschaft der Bundestagsabgeordneten Dirk Wiese (SPD) und Dr. André Hahn (DIE LINKE). Zu den Unterstützern gehörten die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Stiftung West-Östliche Begegnungen, die ParalympicsZeitung sowie die Bundestagsfraktion DIE LINKE.
Teilnehmer*innen: über 100 Vertreter*innen von Behindertenverbänden aus Aserbaidschan, Armenien, Belarus, Deutschland, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Moldova, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine und Usbekistan sowie vom Europäischen Behindertenforum.
V.i.S.d.P.: André Nowak