Der Irrweg heißt: Verrichtungsbezogenheit
Eine Meinungsäußerung zur Pflegedebatte
Solange Pflege als eine Ansammlung von „Verrichtungen“ mißverstanden bleibt, werden wir – aus der Perspektive derjenigen, die assistierende, begleitende und/oder anleitende Hilfe für ihr alltägliches DaSein benötigen – keine wirklichen Fortschritte erleben.
So wichtig bessere Arbeitsbedingungen – dazu zählt gute Entlohnung ebenso wie geregelte Arbeitszeit und Muße – für Pflegende sind: Ausgangs- und Zielpunkt politischen, verwaltungsmäßigen und fachlichen Handelns muß die Lebensqualität der Menschen sein/werden, die auf diese Hilfe angewiesen sind.
Insofern bleibt die Konzentration auf die Arbeitsbedingungen in Einrichtungen hinter den Erfordernissen der Zeit zurück. Selbstverständlich unterstütze ich diesen – vorwiegend gewerkschaftlichen – Kampf. Aber weder ich persönlich noch der ABiD werden aufhören, eine wirkliche Hinwendung zu den Betroffenen zu verlangen. Mehr als 2/3 aller Pflegeleistungen – ich spreche lieber von begleitdender Assistenz – werden zu Hause erbracht. In den Familien und von Freund*innen bzw. Nachbar*innen, vorwiegend von Frauen. Manchmal – und zunehmend – von bezahlten Assistent*innen.
Hier zeigt sich am offensichtlichsten, daß Verrichtungsbezogenheit ein Irrweg ist. Es geht um Anwesenheit, ums DaSein. Es geht darum, im richtigen Moment die richtige/erforderliche Unterstützung geben zu können. Nicht umgekehrt.
Die Situation ist doch absurd. Man stelle sich nur einmal vor, daß einem (noch)nicht-pflegebedürftigen Menschen vorgeschrieben würde, daß sie/er jeden Tag von 11:00 – 11:12 Uhr auf die Toilette dürfe/müsse/könnte oder daß irgendein Sozial- oder Pflegedienst bestimmte, daß sie/er jede Woche nur einmal geduscht würde. (Daß außerdem häufig die verabredete Zeit gar nicht eingehalten wird, sodaß große und teilweise peinsame Wartezeiten entstehen, will ich hier gar nicht vertiefen.)
Wir müssen die Verrichtungs-Abrechnung über Bord werfen und (angemessene) Zeitbudgets als oberste Bewerungskriterien einführen. Das schließt ein, daß es (gelegentlich große) Zeiträume gibt, in denen nichts „Abrechenbares“ geschieht. Da geht es eben um Anwesenheit. Auch nachts. Diese Zeit kann für Gespräche genutzt werden, sie kann aber auch der Erholung (beider Seiten) dienen.
Solange diese Richtungsentscheidung noch nicht getroffen ist, gäbe es zwei Maßnahmen, die sofort umgesetzt werden könnten und den Familien (in Gänze) unmittelbar hülfen:
1. Die Geldleistungen der Pflegeversicherung (SGB XI) auf das Niveau der Sachleistungen anheben.
2. Pflegenden Familienangehörigen, Freund*innen und/oder Nachbar*innen pro Jahr mindestens 1 Rentenpunkt gutschreiben.
Marcus Graubner
ABiD-Vorsitzender
Ilja Seifert
ABiD-Ehrenvorsitzender