Gericht trifft Entscheidung zu Schwerbehinderung: Rollstuhlnutzung alleine reicht nicht

Trotz Rollstuhl und GdB 100: Gericht verweigert Merkzeichen H. Warum Diagnose und Pflegegrad oft nicht reichen – und was Betroffene beachten sollten.

München – Wer als schwerbehindert eingestuft wird, hat Anspruch auf besonderen Schutz und vielfältige Nachteilsausgleiche: vom Steuerfreibetrag bis hin zu Vergünstigungen im Alltag oder beim Zugang zu bestimmten Leistungen.

In Deutschland richtet sich das vor allem nach dem Grad der Behinderung (GdB) sowie den sogenannten Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis.

Rollstuhl ist nicht gleich hilflos – Gericht überrascht Schwerbehinderte (Symbolbild) © R. Rebmann/ blickwinkel/ Imago

Besonders relevant ist dabei das Merkzeichen H („hilflos“) – es kann erhebliche Auswirkungen für Betroffene haben, etwa bei Steuern, Pflege oder Mobilität. Doch was passiert, wenn scheinbar alle Voraussetzungen erfüllt sind und das Merkzeichen trotzdem abgelehnt wird? Ein aktuelles Gerichtsurteil zeigt: Viele verbreitete Annahmen über das Merkzeichen H halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand, wie das Portal gegen-hartz.de berichtet. In einem anderen Fall zeigt ein Gericht, warum ein Schwerbehindertenausweis nicht automatisch unbefristet erteilt wird.

Rollstuhl und GdB 100: Warum das Gericht das Merkzeichen „H“ dennoch ablehnt.

In dem entschiedenen Fall hatte eine 50-jährige Klägerin bereits einen GdB von 100 anerkannt bekommen. Zusätzlich waren ihr die Merkzeichen G für gehbehindert, B für Begleitperson und aG für außergewöhnlich gehbehindert zuerkannt worden. Die Frau nutzte zudem einen Rollstuhl auch in der Wohnung und litt unter chronischen Schmerzen. Auf den ersten Blick schien das Merkzeichen H nur noch Formsache.

Doch das sah das Landessozialgericht Baden-Württemberg (Az. L 12 SB 440/24) anders und wies die Klage ab. Zwar erkannte das Gericht die erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen an, doch stellte auch fest, dass objektiv eine erhebliche Selbstständigkeit gegeben war. So könne sie sich ohne fremde Hilfe an- und ausziehen, selbstständig essen und trinken sowie ihren Alltag eigenständig organisieren. Damit fehlte es an der für das Merkzeichen H erforderlichen Häufigkeit und Intensität der Hilfeleistungen. Ein neues Urteil verschaffte indes Menschen mit Schwerbehinderung wichtige Erleichterungen am Arbeitsplatz.

Rollstuhlnutzung allein reicht für Merkzeichen H nicht aus.

Besonders überraschend: Selbst die dauerhafte Nutzung eines Rollstuhls in der Wohnung führte im konkreten Fall nicht zur Anerkennung des Merkzeichens H. Zwar sieht das Gesetz in bestimmten Fällen, etwa bei Querschnittslähmung, eine pauschale Zuerkennung vor. Doch auch hier gilt: Das Gericht prüft genau, ob die Rollstuhlnutzung tatsächlich medizinisch zwingend erforderlich ist. Im Fall der Klägerin stellten die Richter fest: Sie konnte Transfers vom Rollstuhl auf andere Sitzgelegenheiten selbst bewältigen. Das allein reichte nicht aus, um eine Hilflosigkeit im Sinne des Gesetzes anzunehmen.

Was bedeutet das konkret? Nach Angaben des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales gilt eine Person dann als hilflos, wenn sie im Alltag dauerhaft auf fremde Hilfe angewiesen ist. Entscheidend ist dabei nicht die Diagnose, sondern der tatsächliche Unterstützungsbedarf im täglichen Leben. Laut dem Online-Portal betanet.de wird das Merkzeichen H nur dann vergeben, wenn eine Person täglich bei mindestens drei regelmäßig wiederkehrenden Grundverrichtungen auf erhebliche Hilfe angewiesen ist. Zu diesen sogenannten Grundverrichtungen zählen unter anderem:

  • An- und Auskleiden
  • Körperpflege
  • Toilettengänge
  • Nahrungsaufnahme

Laut der Landesbehörde Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) wird das Merkzeichen H in der Regel Personen mit Pflegegrad 4 oder 5 zuerkannt. Dieses Merkzeichen bringt für Betroffene erhebliche Vorteile, darunter steuerliche Erleichterungen, kostenlose Nahverkehrsnutzung sowie eine vollständige Befreiung von der KfZ-Steuer.

Gericht: Hilfebedarf muss konkret nachgewiesen werden.

Die klare Botschaft des Gerichts: Entscheidend ist der gelebte Alltag, nicht die Diagnose auf dem Papier. Wer das Merkzeichen H erhalten will, muss konkret nachweisen, bei welchen Tätigkeiten des täglichen Lebens er regelmäßig auf Hilfe angewiesen ist.

Experten empfehlen, Tagesprotokolle zu führen. Darin sollte dokumentiert werden, wer wann, wie lange und wobei genau hilft. Wichtig ist auch: Ärztliche Berichte sollten nicht nur Diagnosen auflisten, sondern klar darstellen, welche alltäglichen Verrichtungen ohne fremde Hilfe nicht möglich sind. Nur so kann der tatsächliche Unterstützungsbedarf nachvollzogen und rechtlich gewürdigt werden.

Ein hoher GdB ist nicht in Stein gemeißelt – welche Möglichkeiten Betroffene haben, wenn ihr Behinderungsgrad herabgestuft wird. (Quellen: gegen-hartz.de, Gerichtsurteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg, betanet.de, Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, ZBFS) (vw)

 

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Die Weiterbildung wird im Rahmen der Selbsthilfeförderung nach § 20 c Sozialgesetzbuch V finanziert durch den BKK Dachverband .