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Rollstuhlfahrerinnen berichten: So barrierefrei sind Arztpraxen in Sachsen-Anhalt

Lolita Graubner und Annett Melzer sind durch unterschiedlichste Krankheiten auf einen Rollstuhl angewiesen. Wenn sie zu einem Facharzt wollen, beginnen die Probleme. Gibt es einen Fahrstuhl? Schaffen sie es auf die Behandlungsliege? Gibt es eine behindertengerechte Toilette? Meist ist die Antwort: Nein. Über die Sorgen und auch die Freuden zweier Frauen aus Sachsen-Anhalt.

Wenn Annett Melzer einen Arzt sucht, dauert das Wochen oder sogar Monate. Dabei ist die Hallenserin nicht besonders anspruchsvoll – sie möchte einfach nur in die Praxis gelangen. Seit etwa 30 Jahren ist sie Rollstuhlfahrerin, Stufen sind ein unüberwindbares Hindernis. „Es gibt viele Praxen, wo es Stufen gibt, keine Fahrstühle vorhanden sind, von behindertengerechten Toiletten will ich überhaupt nicht reden. Die sind wirklich die Ausnahme“, sagt Annett Melzer MDR SACHSEN-ANHALT.

Arztbesuch: Welche Probleme Menschen mit Behinderung in Sachsen-Anhalt haben

Blinde Menschen, Kleinwüchsige, Rollstuhlfahrer, psychisch Kranke – sie alle müssen irgendwann einmal zum Arzt. Doch das ist nicht so einfach wie bei Patienten ohne Einschränkungen.

Fachärzte in Halle zu finden, ist für sie sehr schwer. „Egal ob Auge, Haut, HNO“, zählt Annett Melzer auf. Sie schaut etwas ratlos durch ihre Brille. Ihre Hände liegen in ihrem Schoß auf dem roten Kleid, das sie auf die Farbe ihrer Schuhe abgestimmt hat. Momentan sucht sie für eine Routine-Untersuchung einen Hautarzt, ruft verschiedene Praxen an. Bisher kam immer die Antwort, dass die Praxis für sie als Rollstuhlfahrerin nicht zu erreichen ist. Ein Ärztehaus hatte zwar einen Fahrstuhl, doch der war gerade kaputt. Die Hallenserin zuckt mit den Schultern, weil sie es nicht anders kennt. Aber ärgerlich findet sie es trotzdem. Schließlich nutze Barrierefreiheit doch allen, angefangen bei alten Menschen, die kaum noch Treppen steigen könnten, bis hin zu Kindern und ihren Eltern mit schweren Kinderwagen.

Als junge Frau Fußgängerin

Die 53-Jährige hat von Geburt an eine seltene Wirbelsäulenfehl- und missbildung, die sich Klippel-Feil-Syndrom nennt. Die Krankheit verschlimmert sich und bringt viele Folge- und Begleiterkrankungen mit sich – beispielsweise Lungenschäden. Ihr war gesagt worden, dass sie maximal 20 Jahre alt werden würde. Dabei konnte Annett Melzer als junge Frau ganz normal laufen, hatte einen Beruf gelernt, Abitur gemacht, war Leichtathletin. Doch seit einer notwendigen Wirbelsäulen-OP mit Mitte 20 ist sie auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie lebt weiter so aktiv wie möglich und ist grundsätzlich guter Dinge. Nur zum Arzt geht sie eher selten, auch, weil die Suche so schwierig ist.

Von den knapp 3.000 Arzt- und Physiotherapiepraxen in Sachsen-Anhalt sind nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung rund 1.700 barrierefrei zugänglich. Allerdings bedeutet barrierefrei, dass Türschwellen mit einer Höhe von maximal drei Zentimetern erlaubt sind. Schon das ist eine Hürde für Annett Melzer. An einem Ärztehaus im Süden von Halle versucht sie eine solch kleine Stufe mit ihrem Rollstuhl zu nehmen, rollt zurück, mit Hilfe eines Mannes schafft sie es dann, er hält gleichzeitig die Tür auf. Der Rollstuhl ruckelt über die Türschwelle, dann ist sie im Treppenhaus. Sie freut sich, dass es geklappt hat, einen Fahrstuhl gibt es tatsächlich auch.

Mein Zahnarzt hebt mich sogar selbst auf den Stuhl.

Annett Melzer

Wenn sie dann doch einmal einen Arzt gefunden hat, bei dem alles klappt, bleibt sie dem treu. „Mein Zahnarzt hebt mich sogar selbst auf den Stuhl“, erzählt sie begeistert. Da der Behandlungsstuhl höhenverstellbar ist, sei das kein Problem. Beim Augenarzt beispielsweise ist es für sie nicht möglich, auf den Behandlungsstuhl zu kommen. Deshalb war sie fünf Jahre lang nicht zur Untersuchung, die eigentlich jedes Jahr empfohlen wird.

Initiative ergreifen

Sind Arztpraxen nicht barrierefrei zugänglich, und das sei leider eher die Regel als die Ausnahme, trägt sie das auf der Internetseite wheelmap.org ein. Für Sachsen-Anhalt gibt es dort schon mehr als 15.000 Punkte zu Gesundheitseinrichtungen, Restaurants oder auch Museen, farblich unterteilt von „nicht Rollstuhl gerecht“ bis hin zu „voll Rollstuhl gerecht + WC“.

Annett Melzer wird noch lebhafter als bisher, wenn sie erzählt: „Ich versuche dann auch Kontakt aufzunehmen zu der Praxis oder dem Geschäft und ihnen mitzuteilen, welche Möglichkeiten sie haben – zum Beispiel, mit mobilen Rampen Menschen mit Beeinträchtigung trotzdem den Zugang zu ermöglichen.“ Sie spricht Dinge gern direkt an, um für alle etwas zu verbessern.

Im Nachhinein haben mich schon etliche Geschäfte angerufen und gesagt: ‚Wir haben jetzt eine Rampe gekauft, können Sie mal gucken, ob das so funktioniert?‘

Annett Melzer

Lächelnd sagt sie: „Im Nachhinein haben mich schon etliche Geschäfte angerufen und gesagt: ‚Wir haben jetzt eine Rampe gekauft, können Sie mal gucken, ob das so funktioniert?‘. Und dann sei sie noch einmal hingefahren, habe die Rampe getestet und das klappte immer. „Das finde ich schön, das sind so kleine Erfolgserlebnisse.“

Lolita Graubner aus Tangerhütte

Positiv denken ist auch die Einstellung von Lolita Graubner. Auch sie ist Rollstuhlfahrerin, wohnt anderthalb Stunden Autofahrt entfernt in Tangerhütte, ganz im Norden von Sachsen-Anhalt. Seit etwa 25 Jahren lebt sie mit Multipler Sklerose. Die ersten Symptome bemerkte sie, als sie 17 Jahre alt war und durch kleinste Unebenheiten stürzte. Seit 1999 braucht sie einen Rollstuhl. All diese Zahlen und Jahre kennt sie ganz genau. Was ihr helfe, mit der Krankheit zu leben: „Zehn Mal am Tag lächeln“, und zwar auch über Dinge, die sie eigentlich ärgern müssten – wie das Thema Arztpraxen.

Ein Kamerateam interviewt eine Frau im Rollstuhl.
Lolita Graubner spricht mit einem MDR-Team über ihre Krankheit.Bildrechte: MDR/Luise Kotulla

Lolita Graubner hat leicht rötlich getöntes Haar und sieht mit den Haarspangen, ihrem Shirt mit Pusteblumen-Aufdruck und der Jeans deutlich jünger aus, als sie ist. Sie wird bald 50. Ihre Arztpraxen hat sie sich zusammengesammelt wie Briefmarken, sagt sie stolz. Nicht alles sei ideal, zum Zahnarzt beispielsweise muss eine Begleitperson sie rückwärts vier Stufen hochziehen. Doch ihre Gesundheit lässt das zu, die von Annett Melzer aus Halle mit ihrer Wirbelsäulenerkrankung nicht.

Barrierefreie Frauenarztpraxis

Lolita Graubner macht es glücklich, dass sie direkt in ihrer Heimatstadt Tangerhütte eine Frauenärztin gefunden hat. In ganz Sachsen-Anhalt gab es 2019 nur zwei barrierefreie Frauenarzt-Praxen – laut einer Studie zur frauenärztlichen Versorgung von Frauen mit Behinderung. Mittlerweile werden auf der Seite der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt rund 85 Praxen als Rollstuhl gerecht aufgelistet.

Es ist hier in der Frauenarzt Praxis sehr wichtig, dass ich mich mit dem Rollstuhl frei bewegen und auch auf Toilette gehen kann.

Lolita Graubner

„Es ist hier in der Frauenarzt Praxis sehr wichtig, dass ich mich mit dem Rollstuhl frei bewegen und auch auf Toilette gehen kann. Ich finde das sehr gut hier“, sagt Lolita Graubner MDR SACHSEN-ANHALT. Die Praxis befindet sich im Dachgeschoss, in dem 1992 gebauten Ärztehaus gibt es einen Fahrstuhl. Hier ist es nichts Besonderes, Rollstuhlfahrerinnen oder gehbehinderte Frauen zu behandeln. Jede Woche komme mindestens eine Frau mit Rollstuhl, erzählt eine Schwester, ob nun aus dem Pflegeheim oder auch ganz junge Patientinnen, wie ihre Nichte mit Elektro-Rollstuhl. Die Türen sind breiter als üblich, Schwellen gibt es nicht.

Frauenärztin behandelt oft Rollstuhl-Patientinnen

Frauenärztin Anja Genz hat sich den Umgang mit den körperlich beeinträchtigten Frauen selbst angeeignet, in ihrem Studium war das kaum Thema. Seit 2010 ist sie hier Ärztin und sagt: „Es ist wichtig, dass man mit den Patienten kommuniziert. Der eine möchte Hilfe, der andere nicht.“ Und wer nicht auf den Untersuchungsstuhl gehoben werden könne, der werde auf der Liege direkt daneben untersucht. Auch Frauen, die sich nicht artikulieren können, sind hier Patientinnen. „Schmerzäußerungen können sie schon. Und alles andere bekommt man dann schon raus“, so Anja Genz.

Es ist wichtig, dass man mit den Patienten kommuniziert. Der eine möchte Hilfe, der andere nicht.

Anja Genz Frauenärztin

Die Behandlung von Frauen wie Lolita Graubner laufe ganz normal ab. „Außer, dass es mehr Zeit kostet, ist es keine andere Behandlung. Wir wissen, wo wir helfen müssen, was die Patienten alleine können. Wir brauchen selten Hilfe von Angehörigen oder Transportunternehmen, wir kommen gut zurecht.“ Die Patientinnen seien zufrieden, dass sie ganz normal behandelt werden könnten wie jeder andere Patient ohne Behinderung auch. „Sie danken uns immer, dass das so gut klappt“, sagt die Frauenärztin. Das gilt auch für Lolita Graubner, die sowieso immer freundlich und gut gelaunt ist.

Lolita Graubners Mann arbeitet in der Praxis

Lolita Graubner ist verheiratet und ihr Mann arbeitet zufälligerweise in ihrer Frauenarztpraxis an der Rezeption – und das schon länger, als sie hier Patientin ist. Marcus Graubner ist seit 30 Jahren in der Praxis angestellt. Erst unter seinem Vater, der hier Frauenarzt war, nun unter dessen Nachfolgerin Anja Genz. „Ich habe den 31. März um 10 Uhr“, sagt er ins Telefon und trägt dann langsam den Termin im Computer ein. Die Patientinnen mögen ihn, auch oder gerade weil er etwas langsamer arbeitet als seine Kolleginnen. Das vermittelt Ruhe.

Ein Mann mit Maske arbeitet an einem Computer in einer Arztpraxis.
Wie seine Frau lebt Marcus Graubner mit mehreren Beeinträchtigungen. Auch deshalb engagiert er sich für andere und ist Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbands in Deutschland. Er hat eine Lösung für die mangelnde Barrierefreiheit so vieler Arztpraxen: In der Landesverordnung Sachsen-Anhalt müsste aus seiner Sicht stehen, dass Gebäude barrierefrei zugänglich sein müssen. „Der Empfehlungscharakter muss raus“, sagt er MDR SACHSEN-ANHALT und erklärt, dass es zu viele Ausnahmen gibt. Als Anreiz bei Neubauten oder Sanierung könnte er sich vorstellen, die Barrierefreiheit an die Vergabe von Fördermitteln zu knüpfen. In der barrierefreien Frauenarztpraxis arbeitet er gern, und wenn seine Frau vorbeischaut, gleich noch ein bisschen lieber.

Komplette Barrierefreiheit nie möglich

Einig sind sich hier alle: Barrierefreiheit kann es eigentlich nie geben, lediglich Barrierearmut. Zu unterschiedlich sind die Bedürfnisse von Menschen, die nicht laufen können, nicht sehen können, nicht hören können, sehr groß oder sehr klein oder psychisch beeinträchtigt sind. Aber wenn auf Barrierearmut geachtet wird – also darauf, dass wirklich jeder Mensch ohne Hilfe so viel wie möglich allein erreichen kann – sei schon viel geholfen.

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Die Weiterbildung wird im Rahmen der Selbsthilfeförderung nach § 20 c Sozialgesetzbuch V finanziert durch den BKK Dachverband .